Engel der Barmherzigkeit … Anselm Grün
Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.
Matthäus 5,7
Engel der Barmherzigkeit
Barmherzig ist, wer ein Herz hat für die Armen, für die Verwaisten und Unglücklichen,
für die Einsamen und Bemitleidenswerten. Aber bevor er ein Herz für die Armen haben
kann, muss er zuerst ein Herz für das Arme und Unglückliche in sich selbst haben. Wir
müssen zuerst lernen, mit uns selbst barmherzig umzugehen.
Nicht gegen sich wüten, sich nicht mit Vorsätzen überfordern, sondern zunächst einmal:
ein Herz haben für mich, so wie ich geworden bin, ein Herz für das Schwache und
Verwaiste in mir. Wir gehen oft sehr unbarmherzig mit uns um. Wir verurteilen uns,
wenn wir einen Fehler machen. Wir beschimpfen uns, wenn einmal etwas schief läuft.
Wir haben in uns einen unbarmherzigen Richter, ein hartherziges Über-Ich, das all
unsere Gedanken und Gefühle beurteilt, das uns bestraft, wenn wir seinen Forderungen
nicht entsprechen. Gegen dieses unbarmherzige Über-Ich kommen wir oft nicht an.
Da brauchen wir die Worte Jesu, der uns den barmherzigen Vater vor Augen führt,
der den verlorenen Sohn nicht verstößt, sondern ein Fest mit ihm feiert, weil er, der
verloren war, wiedergefunden wurde, weil er, der tot war, wieder zum Leben erweckt
wurde. Da brauchen wir einen Engel der Barmherzigkeit, der den inneren Richter in uns
entmachtet und unser Herz mit erbarmender Liebe erfüllt.
Es genügt nicht, sich nur mit dem Verstand und Willen Barmherzigkeit vorzunehmen.
In unserem Unbewussten nistet die Unbarmherzigkeit eines harten Über-Ichs. Um
es zu überwinden, bedarf es des Engels der Barmherzigkeit in uns.
Und wenn wir mit uns barmherzig umgehen, dann können wir auch die Barmherzigkeit
anderen gegenüber lernen. Ich kenne viele Menschen, die sich barmherzig für kranke
und einsame Menschen einsetzen, die aber ganz und gar unbarmherzig mit sich selbst
umgehen. Für jeden anderen Menschen haben sie ein Herz, nur für sich selbst ist kein
Platz in ihrem Herzen. Da zwingen sie sich, alle eigenen Bedürfnisse zu unterdrücken,
nur um für die anderen da zu sein. Doch solche Unbarmherzigkeit sich selbst gegenüber
wird auch die Hilfe andern gegenüber verfälschen.
Da wird sich in meiner Liebe ein Besitzanspruch einschleichen. Da bin ich dann
ärgerlich, wenn meine übergroße Liebe nicht honoriert wird. Damit ich den andern von
Herzen liebe, damit ich wirklich ein Herz für ihn oder sie haben kann, muss ich zuerst
selbst in Berührung kommen mit meinem Herzen, muss ich mein Herz zunächst all dem
Armen und Unglücklichen in mir zuwenden. Dann kann ich barmherzig sein.
Dann werde ich andere nicht verurteilen, sondern ich werde sie gerade mit all dem
Unglücklichen, Zerrissenen, Elenden, Unansehnlichen in mein Herz aufnehmen. Dann
wird meine Hilfe ihnen kein schlechtes Gewissen vermitteln. Sie werden vielmehr Platz
und Heimat finden in meinem Herzen.
Ich wünsche mir, dass mich der Engel der Barmherzigkeit lehrt, mein Herz zu öffnen
für das Arme in mir und in den Menschen.
Aus: 50 Engel für das Jahr, Anselm Grün
Wunderbar