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Wie seelisches Leid vererbt wird

Begleitung und Perspektive Christina BohnertSpuren traumatischer Ereignisse verändern die Aktivität 
der Erbanlagen über Generationen hinweg

 

Die Ursachen von psychischen Erkrankungen suchen Nervenärzte oft in der Vergangenheit. Schon der berühmte Psychoanalytiker Sigmund Freud wusste, 
dass traumatische Ereignisse in der Kindheit zu psychischen Problemen im 
Erwachsenenalter führen können. Warum das allerdings so ist,
beginnen Neurowissenschaftler gerade erst zu verstehen. Dabei machen die
Forscher aber auch Entdeckungen, die weit über die ursprünglichen
Vermutungen hinausreichen: 

Nicht nur die eigene Biografie scheint darüber zu entscheiden, ob ein Mensch
glücklich und gesund durch das Leben geht, sondern ebenso diejenige der
direkten Vorfahren. Die Spuren der großelterlichen Erlebnisse können nämlich
noch im Erbgut ihrer Enkel gefunden werden. Darauf deutet eine erstaunliche
Studie hin:

Zwei Wissenschaftler der Emory University School of Medicine in Atlanta
(US-Staat Georgia) konnten dabei zeigen, dass sich negative Erfahrungen
von Großeltern auf das Verhalten und die zentralen Nervenstrukturen ihrer
Enkel auswirken – zumindest bei Mäusen. Diese haben anhand von kleinen
Elektroschocks schmerzhaft lernen müssen, dass der Geruch des Stoffes
Acetophenon nichts Gutes bedeutet. Bald darauf zuckten die Nager bereits,
wenn ihnen der mandelartige Geruch nur in die Nase stieg, aber noch gar kein
Elektroschock erfolgt war.

ANGST NOCH BEI DEN ENKELN

Das Erstaunliche: Ein ähnliches Verhalten zeigten auch ihre Nachkommen –
und das, obwohl sie nie zuvor Acetophenon oder Elektroschocks ausgesetzt
worden waren. Die Nachfahren der Lern-Gruppe zuckten bei dem ersten Geruch
von Acetophenon deutlich mehr als jene Mäuse, deren Vorfahren nie eine
Abneigung gegen den Geruch gelernt haben, berichten die US-Forscher in der
aktuellen Ausgabe des Fachmagazins “Nature Neuroscience”.

Doch damit nicht genug:
Selbst die Mäuse-Enkel litten noch sichtlich unter den schmerzhaften
Erfahrungen ihrer Großeltern. Zusätzlich fanden die Forscher 
Veränderungen in jenen Hirnarealen, die Gerüche verarbeiten. Eine andere
Ursache, beispielsweise ähnliche Umweltfaktoren, konnten die Forscher
durch weitergehende Untersuchungen ausschließen. “Die Tatsache, dass diese
Veränderungen auch bei künstlicher Befruchtung, Aufzucht der Jungen durch
Zieheltern und über zwei Generationen bestehen bleiben, deutet auf eine 
biologische Herkunft hin”, schreiben Brian Dias und Kerry Ressler.

Das gelernte Zittern auf den Geruch von Acetophenon schien sich also irgendwo
ins Erbgut eingebrannt zu haben und wurde – allem Anschein nach – auf die
folgenden Generationen übertragen. Die Wissenschaftler vermuten die ursächlichen
Veränderungen allerdings nicht in den Genen selbst, sondern vielmehr in den
Strukturen, welche die Gene steuern. Der Zweig der Forschung, der sich mit
solchen Änderungen befasst, nennt sich “Epigenetik”.

DNA-Strukturen, die die Aktivität von Erbeigenschaften regeln, machen einen
Großteil unseres Erbguts aus. Sie funktionieren ähnlich wie Schalter, mit denen
bestimmte Gene nach Bedarf an- oder abgeschaltet werden können.
Traumatische Ereignisse scheinen sich genau auf diese DNA-Abschnitte
auszuwirken – teilweise mit lebenslangen Folgen.

Eine krankhaft veränderte Gen-Aktivität scheint so beispielsweise an der Entstehung
von einer Posttraumatischen Stresserkrankung beteiligt zu sein. Das legen erste
Ergebnisse einer gemeinsamen Studie des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in
München und der Mount Sinai School of Medicine in New York nahe, bei der
die psychischen Langzeit-Folgen der Terroranschläge des 11. Septembers 2001
in New York untersucht werden.

Beim Vergleich von Menschen, die eine Posttraumatische Stressstörung entwickelten
mit jenen, die gesund blieben, zeigte sich ein deutlicher Unterschied in der Aktivität
von Anpassungs- und Stressgenen. Scheinbar hatte bereits das einmalige
traumatische Ereignis bei manchen Menschen essenzielle Erbgutschalter umgeklappt –
und so das Leben der Betroffenen langfristig verändert.

Dieser Mechanismus könnte ebenso erklären, wieso bei eineiigen Zwillingen nur eines
der Geschwister an einer Posttraumatischen Stressstörung erkranken kann.
Letztlich müssten beide aufgrund des identischen Erbguts auch ein gleich hohes Risiko
für diese Erkrankung haben. Dennoch kommt es vor, dass nur eines der
beiden Geschwister von der Erkrankung betroffen ist – möglicherweise
infolge von unterschiedlichen Umweltfaktoren.

Stress und traumatische Ereignisse gelten so als vom Genom unabhängige
Risikofaktoren, die den entscheidenden Unterschied zwischen Gesundheit und
Krankheit bewirken können. Wie jedoch die Belastungssituationen zur Krankheit
führen, ist derzeit noch recht unklar. Die Epigenetik könnte genau hier eine
weitere Erklärung für psychische Erkrankungen bieten, die über die
Gensequenz hinausgeht.

BIOGRAFIE DER AHNEN UNTERSUCHEN

Allerdings kann die veränderte Gen-Aktivität nicht nur Auswirkungen auf die
Psyche haben. In einer Studie aus den Niederlanden fanden sich ebenso
deutliche Stoffwechselveränderungen und ein erhöhtes Krebsrisiko. Davon
betroffen waren jene Niederländer, die während des Hungerwinters 1944
geboren worden waren. Nahrungsmittel waren damals rar, die Mütter
und ihre Babys drastisch unterernährt.

Während sich die Situation dieser Menschen in den folgenden Jahren deutlich
verbesserte, schien eine Spur der einstigen Not im Erbgut zurückzubleiben.
Die Kinder des Hungerwinters litten noch 50 Jahre später doppelt so häufig an
Herzkreislauf-Erkrankungen wie Gleichaltrige, die von der Not verschont
geblieben waren.

Diese Genspur schien sich auf spätere Generationen zu übertragen. So brachten
die Betroffenen selbst häufiger untergewichtige Babys zur Welt, die wiederum ein
höheres Erkrankungsrisiko hatten – obwohl der Hunger längst vorüber war.
Ursache könnte also ein Mechanismus sein, der jenem bei den Mäusen ähnelt,
die über Generationen hinweg Verhaltensänderungen zeigten.

Über die genauen Vorgänge ist bisher nur wenig bekannt. Die Epigenetik soll
bald dabei helfen, nicht nur die Entstehung von Posttraumatischen Stresserkrankungen
besser zu verstehen, sondern auch die von anderen psychischen Störungen wie etwa Phobien.
So könnte es sein, dass künftig nicht nur in der Biografie der Betroffenen nach
Ursachen gefahndet werden muss – sondern auch in der Lebensgeschichte
ihrer Ahnen.

Shari Langemak

Artikel aus der Berliner Morgenpost,
erschienen am 03.12.2013

 

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